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Ein Buch erreicht Stellen, da kommt der Fernseher gar nicht hin.

Leseproben

Niemand kauft gerne die Katze im Sack, deshalb biete ich Ihnen in dieser Sektion an, ausgewählte Texte von mir zu lesen und so festzustellen, ob mein Schreibstil Ihnen zusagt. 


Lost Placer im Rabenweg
Perspektiven - 40 ungewöhnliche Kurzgeschichten

Seit 1776 stehe ich hier am Ende des Rabenwegs, das ist leider auch schon alles, was ich tue, rumstehen und zerfallen. Mein einst so stattliches Hoftor ist mit Efeu überwuchert und hängt verrostet und kraftlos in den Angeln. Die Fassade bröckelt Tag für Tag, als hätte ich Schuppen. Der wunderschöne Garten? Nichts als Unkraut und Gestrüpp, denn schon sehr lange gebietet ihnen niemand mehr Einhalt. Nanu, meine Fenster sind zwar unheimlich verdreckt und unzählige Spinnweben versperren die Sicht, aber ich könnte schwören, dass ich dort vier Menschen kommen sehe. Diese Straße ist schon ewig niemand mehr hochgekommen. Sind es solche Lost Placer? Angezogen von den Mythen und Gerüchten über die zahlreichen Bewohner, die ich bisher beherbergt habe? Von Advokaten über Ärzte, Wissenschaftler und Investoren, selbst Familien bewohnten mich bereits. Viele kamen und alle gingen, bei manchen musste ich nachhelfen. Versteht mich nicht falsch, meine knarrenden Dielen sehnen sich nach dem Tippeln von Kinderfüßen und mein Gebälk braucht dringend die Hände eines Handwerkers. Ich möchte bewohnt sein, meinen Westflügel habe ich damals nur abfackeln müssen, weil ich nicht ertragen konnte, was dieser abartige Wissenschaftler dort mit den Leichen tat. Das tat fürchterlich weh, aber ich habe einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Als Haus mag man mich besitzen können, aber zeigt doch ein wenig Respekt dafür, dass ich eure Aktivitäten sehr wohl sehe und für euch vor den Augen anderer verstecke. Da, tatsächlich, sie betreten das Grundstück. Ob ich das schwere Eichentor überhaupt noch auf bekomme? So viele Jahre wollte niemand mehr hinein. Okay, ich muss es versuchen, das könnte meine letzte Chance sein. Mit einem lauten Knarren und Ächzen schwingen die schweren Torflügel nach innen, um die unerwarteten Gäste willkommen zu heißen. Ich hab’s wirklich geschafft, meine besten Zeiten mögen der Vergangenheit angehören, aber ich bin noch nicht ganz verloren. Sie treten ein und betrachten mein erstes Schmuckstück, eine riesige Uhr, die meinen Eingangsbereich ziert. Ja schon, sie steht seit einer Ewigkeit still, aber hey, auch eine kaputte Uhr hat zweimal am Tag Recht, oder? Meine Bibliothek schmücken wundervolle Bücher, völlig verstaubt und die Ledereinbände zerfallen beim bloßen Ansehen, schon, aber ich bin sicher, einige davon findet man nirgendwo sonst. Fast hätte ich die Hoffnung verloren, aber wenn ich mich von meiner besten Seite zeige, sehen sie vielleicht, was ich sein könnte, wenn man ein wenig Arbeit investiert. Sollte ich die Kronleuchter entzünden und ihnen Licht machen? Nein, besser nicht, das hat schon einige Besitzer verschreckt. Ich könnte sie mit sanften Geräuschen an die besten Plätze leiten und ihnen zeigen, was ich zu bieten habe. Ach, was wäre es doch für eine Wohltat, wenn sie wenigstens mal meine Fenster putzen würden.


Achtung unter Feinden
Perspektiven - 40 ungewöhnliche Kurzgeschichten

Die meisten haben mich kommen sehen, doch dieses Schiff gehört mir. Ich schaukle es wild durcheinander, keine Macht dieser Erde kann mir Einhalt gebieten und diese Menschen sind schon viel zu lange überheblich. An diesem Schiff werde ich ein Exempel statuieren. Ja, ruft ruhig um Hilfe, mit eurem Funkgerät, wer sollte sich wagen, diesem mächtigen Sturm zu trotzen, nur um mit euch zu versinken? “Haltet durch, wir laufen aus”, erschallt es aus den Boxen des Funkgerätes. Diese verrückten Seenotkreuzer wollen mir also tatsächlich die Stirn bieten? Sich mit ihrer lächerlichen Nussschale dem Zorn des Meeres ausliefern. Na los, zeigt was ihr könnt. Verzweifelt sucht die Besatzung nach Halt, der Steuermann krallt sich mit aller Kraft am Ruder fest und doch, es nicht zu glauben. Egal was ich ihnen entgegen schleudere, egal wie hoch die Wellen steigen, egal wie sehr der Wind ihnen zusetzt, sie kommen beständig näher an ihr Ziel. Der Motor donnert, die Schrauben drehen mit aller Gewalt gegen den Strom an und obgleich das Deck ständig von eiskaltem Salzwasser überspült wird, sie brechen nicht ab. Diese Entschlossenheit gewinnt zunehmend meinen Respekt, keiner dieser Helden kennt irgendwen an Bord meines Opfers, und doch riskieren sie für sie ihr Leben. Ich schaue der Crew direkt ins Gesicht, wir sind Feinde ja, und doch sehe ich Achtung in ihren Augen, sie respektieren meine Macht. Na schön, um ihretwillen werde ich die Rettung gelingen lassen, es wird noch viele Schiffe geben, die ich mir holen kann.


Legion, denn wir waren viele
- noch kein Buch -

Oh hallo, da habt ihr mich doch tatsächlich gefunden. Doch doch, das ist etwas ganz besonderes, denn ich bin einer der Letzten meiner Art. Früher gab es meinesgleichen an jeder Straßenecke. Nein, das ist kein Scherz, wir lauerten wirklich überall. An der Schule, beim Kindergarten, gleich mehrere am Bahnhof, gegenüber der Kirche, bei der Bank, selbst am Friedhof stand einer von uns herum. Freilich, das war zu einer Zeit, als euer Geld noch etwas wert war. Kinder bekamen damals eine komplette Tüte voll Süßigkeiten für nur eine Mark, was gibt es dafür heute? Einen einzelnen angelutschten Kaugummi? Überhaupt schon das Wort Mark, Hände hoch, wer dabei an eine Währung und nicht an einen Mitschüler denkt.
Ich merke schon, ich schweife ab, entschuldigt, das ist eine Folge des Alters. Wir standen natürlich nicht einfach so zum Spaß herum. Nein, wir haben ein Business betrieben, wie ihr heute sagen würdet. Wir waren ein nicht zu vernachlässigender Faktor der Wirtschaft, denn unser Ziel waren die Beeinflussbarsten unter euch, die Kinder und ihr kostbares Taschengeld. Denn anders als Ladenbesitzer, konnten wir ja nicht sehen, wie alt unser Gegenüber war. Sobald uns die Münzen übergeben waren, war das Geld weg und das Geschäft bindend. Wer würde sich denn dann nicht auf das schwächste Glied der Kette stürzen? Millionen von Kindern lernten durch unsere Hilfe, wie das Wirtschaftswesen funktioniert. Wie Marktschreier lockten wir sie also von Weitem zu uns heran, strategisch sinnvoll platziert, damit wir ins Auge fielen, meist Rot gefärbt, denn das hatte sich als sinnvolle Signalfarbe erwiesen. Durch eine kleine Scheibe, konnte man sehen, welche Kostbarkeiten in unserem Innern warteten. Dort hatten unsere Betreiber Kaugummis, Bonbons und Plastikkugeln, die Spielzeuge enthielten, und Flummis platziert. Die Plastikkugeln hatten keinen großen Nutzen, sie sorgten nur dafür, dass sich nichts verkeilt, denn wir funktionierten ganz ohne Strom. Deshalb funktionieren wir auch immer noch, auch wenn unser Inhalt sehr wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten abgelaufen ist. Wenn aber etwas keinen Stecker hat, ist es für euch nichts mehr wert, heute gibt es eure mannshohen Snackautomaten und selbst eure Autos müssen an die Steckdose und einen WLAN Hotspot haben. Überlegt mal, wie viel Strom ihr sparen könntet, wenn ihr uns wieder im großen Stil betreiben würdet. Entschuldigt, jetzt bin ich schon wieder vom Thema abgekommen. Ich habe einfach so selten Gesprächspartner, versteht ihr? Wie also funktionierten wir? Man warf eine Zehn-Pfennig-Münze ein und musste dann den schwarzen Knauf so weit drehen, bis der Schacht frei war und etwas herausfiel. Das war natürlich meistens nicht das, was das jeweilige Kind wollte. Jetzt mal ehrlich, das ist doch logisch, oder? Hätten wir gleich das Richtige herausgerückt, wäre doch der Geldfluss erloschen. Wir mussten die Hoffnung erhalten, dass diesmal das Objekt der Begierde herauskommen könnte, aber im Sinne der Kundenbindung, dann doch etwas anderes ausgeben. Alles andere wäre doch wirtschaftlich gesehen völliger Quatsch gewesen, oder? Gut zugegeben, gerade Kinder mit einem schwächeren Charakter haben wir so leicht um all ihr Taschengeld gebracht, denn es brauchte schon etwas Willenskraft, um uns zu widerstehen. Wer nicht nein sagen konnte und alles immer sofort haben wollte, fiel uns komplett zum Opfer, nicht wenige davon sind heute Raucher, Alkoholiker oder Spielsüchtig, immer auf der Suche nach einem kurzzeitigen Erfolgserlebnis, das sich im Nachhinein als Täuschung herausstellt, denn wirklich cool ist nichts davon. Wirklich cool ist es, sein Leben selbst unter Kontrolle zu haben und das haben vor allem die drauf, bei denen ich früher schon keine Chance hatte. Wer äußeren Reizen widerstehen kann, ist auf dem besten Weg zu einem erfolgreichen Leben und mir gefällt die Vorstellung, dass ich einigen jungen Menschen genau dabei geholfen habe. Hätte es mich nämlich nicht gegeben, hätten sie nie gewusst, wovor sie sich in Acht nehmen müssen. Naja, das war jedenfalls früher. Heute fristen wir ein trostloses Dasein, vielleicht ist das die Strafe dafür, dass wir die Generation, die jetzt selbst Eltern sind, damals so schamlos hinters Licht geführt haben. Generell gibt es so gut wie keine mehr von uns Kaugummiautomaten. Nur noch vereinzelt stehen wir in Dörfchen tief in der Provinz herum, oder hängen an irgendwelchen Wänden, an denen man uns einfach vergessen hat. Plötzlich wiederentdeckt von einem Betrunkenen, der sein Getränk irgendwo abstellen muss. Zu mehr sind wir schon lange nicht mehr zu gebrauchen. So jetzt wisst ihr wozu der komische ausgeblichene rote Kasten einmal da war und wenn ihr einen von uns in Zukunft irgendwo sehen solltet, kommt doch näher. Wir sind lebende Fossilien, gehören fast schon ins Museum, und vermutlich standen wir hier schon, als eure Eltern in eurem Alter waren.


Reiner Selbstschutz
Grimm - Was die Gebrüder verschwiegen...

Hagzissa, stand grässlich gebeugt vor ihrem Kessel und braute nachdenklich einen Trank. Schon sehr lange lebte sie hier mitten im Wald, fernab von all den Menschen, die sie als Hexe verschrien. Sie hatten ihr diesen Namen gegeben, denn wie sie wirklich hieß, hatte sie vor langer Zeit vergessen. Einst war sie ein wunderschönes Mädchen, doch das Leben hatte es nicht gut mit ihr gemeint. Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann und die Familie sehr geachtet in ihrer Stadt, doch wurden beide Eltern schwer krank. Kein Arzt, ganz gleich wie viel Honorar er forderte, natürlich immer im Voraus, vermochte ihnen zu helfen oder ihrem Leiden auch nur Linderung zu verschaffen. Deshalb lernte sie als kleines Mädchen bereits den Umgang mit allerlei Kräutern und wurde sehr geschickt darin. Zu heilen vermochte sie die Krankheit ihrer Eltern auch nicht, sie linderte lediglich die Symptome und den Schmerz, bis sie, trotz all der Mühe, viel zu früh zur Vollwaisen wurde. Die Achtung, die die Familie zuvor genossen hatte, starb mit ihrem Vater, denn wie das überall so ist, gibt es immer Menschen, die einem den Dreck unter den Nägeln nicht gönnen. Obwohl sie gerade ihre Eltern verloren hatte, beneideten sie viele und trachteten nach ihrem Erbe. Diese garstigen Gestalten schlossen sich in ihrer Raffgier zusammen und schmiedeten einen Plan, wie sie das Haus plündern könnten, und zwar ganz legal. Denn mit dem Gesetz wagte sich keiner von ihnen anzulegen. Viel zu abschreckend schienen die Konsequenzen für sie, sollten sie dabei erwischt werden. Natürlich hatten sie mitbekommen, dass Hagzissa sehr geschickt mit Kräutern umging, und so war der Vorwand schnell gefunden. Man würde sie als Hexe denunzieren, denn eine Hexe durfte man ausrauben, ihr allerlei Gewalt antun und glauben würde ihr niemand. Alle Methoden eine als Hexe beschuldigte Frau freizusprechen führten gemeinhin zum Tod, sodass keine Chance für sie bestand zu ihrem Recht zu kommen. Zum Glück aber gab es einen Jäger, der von dieser miesen Intrige erfuhr und es gut mit dem Mädchen meinte. Oft hatten sie sich im Wald zufällig getroffen und sie war fast wie eine Tochter für ihn geworden. Sofort nahm er die Beine in die Hand und stürmte zu ihr. Erschrocken öffnete sie ihm die Tür, worauf er sofort entschlossen ihren Arm packte und sie mit sich zog. „Ich erkläre dir alles unterwegs“, raunte er. „Nur lauf!“ Sie vertraute ihm und folgte seiner Führung. Als die alarmierten Wachen auf Befehl des Priesters, die Hexe festnehmen wollten, war das Haus leer. Die Besitztümer teilten ihre Feinde, mit einem kurzweiligen Gefühl des Triumphs, untereinander auf, während weit weg von der nächsten Siedlung, mitten im Wald ein Jäger eine Hütte baute. Eine Zeitlang wohnten sie hier gemeinsam, der Jäger beschaffte Nahrung und Brennholz, sie kochte und versorgte ihn, wenn er sich verletzt hatte. Dann jedoch zog ein schrecklicher Krieg über das Land und Soldaten fanden die Hütte im Wald. Sie plünderten und taten ihr unsägliche Grausamkeiten an, der Jäger konnte sie alleine nicht gegen so viele beschützen und wurde schwer verletzt. Mühsam hatte sie ihn wieder aufgepäppelt, aber sein Versagen nagte weiter an ihm und ließ ihn nie wieder in Frieden. Auf den Krieg folgte eine Hungersnot, die Menschen trieb es hinaus in den Wald und einige fanden die Hütte, wieder taten sie ihr weh und wollten alles stehlen, was sie besaß. Diesmal jedoch schaffte der Jäger es, sie zu überwältigen, infizierte sich dabei aber mit der Pest, die dem Krieg immer hinterherzog. Hagzissa konnte sein Leben nicht retten, denn er hatte sich bereits aufgegeben. Und so lebte sie verbittert und einsam im Wald, aus Angst, dass sich die furchtbaren Dinge, die ihr widerfahren sind, wiederholen könnten. Um nicht wieder gefunden zu werden, hatte sie gelernt, einen Trank zu brauen, dessen Dämpfe, die sie über den Kamin leitete, die Menschen in der Nähe der Hütte halluzinieren ließ. Ihr Überlebenswille wurde stärker, je mehr die Menschlichkeit tief in ihrem Herzen erlosch. Tiere wagten sich nicht in die Nähe ihrer Hütte, na gut bis auf ihren Raben Asrael, der ihr einziger Begleiter war. Ihr Trank verlieh ihr selbst und ihrem Raben ein ungewöhnlich langes Leben, doch hielt er nicht den Prozess des Alterns auf. Sie wurde bucklig, ihre Haut ledrig und faltig, die meisten Zähne hatte sie längst verloren und ihr Haar war licht und grau geworden. Ihr Augenlicht war schwach, beinahe gebrochen, weshalb sie sich angewöhnt hatte, mit den Händen zu „sehen“. Essen konnte sie nur, was sie in der Umgebung der Hütte fand, denn weit kam sie schon seit Jahren nicht mehr. Stattdessen sorgte sie dafür, dass das Feuer unter dem Kessel immer brannte, denn niemals durfte er aufhören, seine Wirkung zu entfalten. Doch trotz aller Vorsicht waren da draußen Geräusche zu vernehmen, ganz deutlich. Sie blickte hinaus und sah zwei Bälger, die versuchten ihr Haus aufzuessen. Was um alles in der Welt halluzinierten sich diese Kinder denn da zusammen? Holz und Reisig sind doch nicht essbar, aber sie schienen es lecker wie Lebkuchen zu finden. Hagzissa musste sie vertreiben und so sagte sie in ihrer schaurigsten schrecklichsten Stimme: „Knusper Knusper Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“ Doch die Kinder schreckte das nicht in die Flucht. Was würden sie tun, jetzt da sie wussten, wo Hagzissa wohnte? Würden sie es ihren Eltern sagen? Würden diese mit Soldaten wieder kommen? Nein! Dieses Mal, dazu war sie entschlossen, würde sie nicht durch die Hand anderer leiden. Wenn ich den Jungen als Druckmittel einsperre, so dachte sie sich. Wird das Mädchen brav tun, was ich sage, und ich könnte endlich meine müden alten Knochen schonen. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, den Jungen zu essen, doch um nicht preiszugeben, wie hilflos sie selbst in Wahrheit war, beschloss sie, dem Mädchen Angst mit dieser Drohung zu machen. Wenn sie mich fürchten, erklärte sie gedanklich ihrem Raben. Werden sie nicht wagen, mir etwas zuleide zu tun. Wie die Geschichte ausging, weiß heute ein jedes Kind.


Auf Patrouille

Meine Geschichte wollt ihr hören? Okay, dann will ich sie euch erzählen. Anders als bei euch begann mein Leben in einer Fabrik. Dort wurde ich genäht und gestopft, ihr stopft euch ja auch alles Mögliche rein, aber erst viel später. Jedenfalls kam irgendwann in meiner Produktion der Punkt, an dem mir dieses dämliche Ohrpiercing verpasst wurde. Niemand hat gefragt, ob ich das überhaupt möchte und angenehm war das auch nicht gerade. Um ehrlich zu sein, tat es sogar ganz schön weh. Immerhin war ich ja auch noch viel zu jung für so etwas. Seit diesem Moment jedenfalls trage ich diesen komischen, unnützen Knopf im Ohr. Als ob das nicht schon brutal genug gewesen wäre, stopfte man mich danach einfach in eine Schachtel. Kein Licht, kaum Platz, ihr macht euch kein Bild davon, welche Angst ich da drinnen litt. Ich wusste nicht, was los war. Wurde ich bestraft? Aber für was denn? Ich hatte ja noch gar keine Zeit gehabt etwas auszufressen. Würde ich jemals wieder die Farbenpracht der Welt sehen? Ich wusste es nicht und war sehr, sehr traurig. Viele Nächte hindurch weinte ich sogar und ich konnte hören, dass auch in anderen Kartons weinende Teddybären saßen. Schön war das nicht, aber dann, ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, öffnete sich mein Karton und ein kleines Mädchen, Marie hieß sie, zog mich liebevoll in ihre Arme. Endlich die Berührung und Nähe, nach der ich mich so lange gesehnt hatte und dieses Licht, all die Farben, Gerüchte, es war einfach der Wahnsinn hier draußen. Marie gab mir den Namen Mister Cuddles und nahm mich wirklich überall hin mit. Wir erlebten so viel gemeinsam, all diese Erfahrungen, die wir gemeinsam teilen durften. Es war eine wunderschöne Zeit mit ihr, an die ich immer gerne zurückdenke. Ihr müsst euch vorstellen, auf keinem Spaziergang durfte ich fehlen, in jedem Urlaub war ich das wichtigste Gepäckstück. Selbst in den Kindergarten hatte sie mich jeden Tag mitgenommen. Einmal hatte sie sogar einem fiesen Jungen, der mich gemopst hatte, eine über die Rübe gezogen, um mich zu befreien. So lieb hatte sie mich. Später in der Schule war es dann uncool, ein Plüschtier dabei zu haben, aber den Ehrenplatz auf ihrem Bett hatte ich immer noch. Jeden Abend, obwohl sie schon längst schlafen sollte, erzählte sie mir von ihrem Tag. Jedes Geheimnis vertraute sie mir an, denn sie wusste immer, dass bei mir alles sicher aufgehoben war. Wie es aber mit Kindern so ist, verlor sie irgendwann das Interesse an mir. Ich nehme Marie das nicht übel, ganz und gar nicht, ich verstehe, dass irgendwann einfach Kuscheltiere nicht mehr so spannend sind. Schaut euch um, wie viele Kuscheltiere haben eure Eltern denn? Vermutlich schlafen sie ohne, oder? Und trotzdem verrate ich euch jetzt was. Egal wie groß und stark und was für ein harter Kerl euer Papa ist, der hatte früher auch mit einem Kuscheltier geschmust. Das braucht er gar nicht zu leugnen, dieser Feigling. Wo waren wir? Achso ja, Marie hatte das Interesse verloren, ich bekam immer weniger Aufmerksamkeit und landete irgendwann erneut in einem Karton. Ihre Eltern packten mich auf den Speicher, zu vielen anderen Dingen, die sie aufheben wollten. Eltern sind so, die heben viel Zeug ihrer Kinder auf, obwohl es dann am Ende nie wieder angesehen wird. Viele Jahre verbrachte ich auf dem Speicher. Nur gelegentlich hörte ich Maries Stimme, nämlich immer dann, wenn sie sich lautstark mit ihren Eltern stritt, gewöhnlich folgte darauf das Knallen von Türen. Zu gerne hätte ich sie in diesen Momenten in den Arm genommen und sie getröstet. Doch vom Speicher aus, konnte ich nicht gerade viel tun. Am Rande erfuhr ich auch, dass Marie auszog, sie hatte nun eine eigene Wohnung. Nicht viel Platz, aber es war ihr Reich, keine elterlichen Regeln mehr. Ich freute mich für sie, auch wenn all ihr Zeug, also auch ich, weiterhin bei ihren Eltern gelagert wurde, der Platz reichte nicht. Weitere Jahre in Dunkelheit zogen ins Land, bis plötzlich Bewegung in meine Kiste kam. Was ist denn jetzt los, dachte ich damals. Ich schreckte aus dem tiefen Schlaf, in den Spielsachen wechseln, wenn sich lange niemand mehr für sie interessierte. Marie hatte geheiratet und jetzt ein Haus, so viele Momente in ihrem Leben, die ich verpasst hatte. Sie hole nun all ihre Sachen vom Speicher ihrer Eltern. Hoffnung kam in mir auf. Würde sie mir alles erzählen? Mir sogar Bilder zeigen? Wollte sie mich wieder in ihrem Leben haben? Sie öffnete den Karton und wir lächelten uns an. Sie nahm mich heraus und wie früher in ihre Arme, die waren viel größer geworden, überhaupt war sie eine wunderschöne Frau geworden. “Ach Mister Cuddles”, flüsterte sie damals, “wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?” Dann erzählte sie mir tatsächlich einiges, was sich seither ereignet hatte. Vergessen hatte sie mich nie, das zu wissen machte mich sehr glücklich. Dann aber hatte sie eine Überraschung parat, sie sagte: “Kinder habe ich noch keine, aber ich habe einen neuen Spielkameraden für dich.” Ein kleiner niedlicher Hundewelpe kam sehr vorsichtig auf mich zu. Er hatte leider viel Unglück erlebt und war deshalb sehr misstrauisch, Marie hatte ihn gefunden und aufgenommen. Das war meine Marie, sie hatte ein riesengroßes Herz aus Gold. Langsam gewann ich mit meiner sanften Art das Vertrauen des Welpen. Er kam immer näher und kuschelte sich schließlich sogar an mich. Ich gab ihm die Sicherheit, die er in dieser Phase dringend brauchte. Wie früher wurde ich nun wieder überall hin getragen. Es war wieder super spannend, denn diesmal durfte ich die Welt aus der Sicht eines Welpen erfahren. So viele Dinge, die ich zuvor verpasst hatte. Hört auf meinen Rat, lasst euch die Welt einmal von euren Haustieren zeigen, ihr werdet überrascht sein, was ihr alles nie beachtet habt. Er zeigte mir, wie viel Spaß es macht, wie ein Verrückter zu buddeln. Wie man Fährten liest und Witterung aufnimmt und wir patrouillieren gemeinsam durch den Garten. Durch den Zaun beobachteten wir jeden, der vorbei ging ganz genau und waren die persönliche Leibwache der benachbarten Hasen. Keine Katze traute sich in die Nähe, denn unser Bellen schlug sie immer in die Flucht. Nur knapp ein Jahr später bekam Marie dann einen Sohn. Aus dem Welpen war ein stattlicher Hund geworden, aber anders als Menschen sind Hunde wirklich sehr loyal, er liebt mich heute noch immer so wie am ersten Tag. Nun aber haben wir eine Mission. Wir bewachen gemeinsam das kleine Kind, bringen es zum Lachen, wenn es traurig ist und freuen uns bereits darauf, wenn es laufen lernt und wir als unzertrennliches Trio die Welt erkunden können. Ihr seht also, es ist unwichtig, wie viele Jahre ich schon auf dem Buckel habe, meine beste und glücklichste Zeit, liegt noch vor mir. So jetzt muss ich aber los, die Patrouille ist überfällig, macht es gut, ihr Lieben.